wernee: überflieger

2023-11-22

Diese Vergesslichkeit. Wieder suche ich die Autoschlüssel. Die Wohnung wird abgegangen – zuerst überblicksmässig. Aber ich finde die Schlüssel nicht. Die sich ständig ändernden Lichtverhältnisse ärgern mich. Ich will das Licht meines Smartphones anmachen, aber wo ist wieder das verdammte Smartphone?

Knapp vor der Wohnungstüre stehe ich eine Weile, betrachte die vielen Zettel, die da kleben, was ich alles ein- und ausschalten soll. Ich nehme mir vor, doch nicht das Auto zu nehmen, sondern öffentlich zu fahren und beschließe dann, das notfalls ohne Handy zu tun. Ich mache die Türe auf, trete auf den Gang. Der Nachbar hat die Türe wieder offen. Immer hat er die Türe offen. Irgendwann werden sie ihn überfallen, alles rauben, was er hat. Ich gehe langsam an der Türe vorbei, schaue hinein, prüfend, ob alles in Ordnung ist. Wieder sitzt er da, hat dieses Ding im Gesicht. Zuletzt sagte er etwas zu mir, was war es nur? In etwa so: Wer nicht möchte, dass eingebrochen wird, kann einfach die Türe offen lassen.“ Ein moderner Mensch mit modernen Auffassungen. Ich grüße.

Er nimmt das Ding ab, lächelt mich an. „Hallo.“, sagt er. „Geht es Ihnen heute gut?“ Ich sage ja, warum sollte es mir auch nicht gut gehen?
„Sind Sie gestern gut beim Arzt angekommen?“, setzt er seine Frage fort.
„Arzt?“, frage ich. Ich erinnere mich nicht. Mein Nachbar lächelt milde, legt das Ding aus der Hand, erhebt sich, kommt zur Türe.

„Wo geht es heute hin?“, fragt er mich nun. Ja, wohin geht es denn heute? Ich denke nach. Zur Arbeit? Nein. Ich arbeite schon lange nicht mehr. Sicher 20 Jahre. „Ein bisschen hinaus ins Grüne.“, sage ich, weil es mir peinlich ist, dass ich gar nicht weiß, wohin ich eigentlich will – oder soll. Ich könnte umkehren und weiter mein Handy suchen.

„Soll ich Ihnen ein Über rufen? Oder geht es so…“

Geht es so. Geht es so? Das hat er doch schon einmal zu mir gesagt. Geht es so, also ohne Hilfe? Ohne Stock? Ohne Rollator? Ohne Stups? Aber natürlich! Ich habe ja gar kein Handy mehr. Jetzt ist das ja an meinem Arm montiert. Ich hebe den Arm. Mein Nachbar sieht es an, dann mich, dann wieder milde: „Soll ich es nochmal erklären?“

Ich bitte nicht darum, er schreitet gleich zur Tat. „Wenn Sie hier drücken, können Sie sprechen. Bei Über müssen Sie nicht sagen BRING MICH ZUM KAHLENBERG, wie bei den anderen komplizierten Anbietern. Über ist einfach. Sagen Sie einfach ÜBER KAHLENBERG. Mehr müssen Sie nicht tun. Einfach den Wunsch äußern, den Rest macht das System.“

„Das System.“, murmle ich wohl.

„Ja, also der Anbieter, den ich Ihnen eingestellt habe. Über. Über holt Sie ab, bringt Sie über die kürzeste direkte Strecke zum Ziel.“

Ich überlege, ob ich nicht doch mit dem Auto fahre. Welches sollte ich nehmen, den Toyota, den Lada oder doch so ein Mietauto? Oder das, von dem ich dauernd träume, dass ich es zwar bestellt und bezahlt, aber nie abgeholt habe. Verdammt lang her, denke ich. Und die Erinnerung kommt. Die Gegenwart auch. Ich habe seit 30 Jahren kein Auto mehr.

„Ach Über.“, sage ich.

„Ja, Über. Die Überflieger.“, lacht er. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Er greift nach meinem Arm, drückt für mich auf das Display der Uhr, die mein Handy ist. Ich sage nichts, also spricht er für mich. „Über: Kahlenberg.“ sagt er nur.

Und dann sagt er: „Abbruch.“ Er zeigt mit einem Finger auf mein linkes Ohr und sagt: „Sie haben die Kopfhörer nicht mit. Ohne die Stöpsel sollten Sie nicht fliegen, es ist viel zu laut. Die Propeller…“

Ich erinnere mich. Die Propeller. Sie lärmen Tag und Nacht. Ich brauche diese Noisstschanzellingdinger oder so. Die liegen neben dem Bett, ich schlafe nicht gerne damit. Ich höre schon so schlecht, dass ich sie nicht gegen den Lärm der Flugkapseln, die unentwegt herumfliegen, brauche. Der Nachbar empfahl mir auch Verdunkelungsbrillen, damit ich ihre Lichter nicht sehen muss, aber es geht auch so irgendwie. Ich habe immer die Rollos herunten, vermisse den Ausblick, aber die Rollos helfen gegen den Einblick.

Ich hole die Kopfhörer aus der Wohnung. Der Nachbar wartet geduldig, ich drücke mir die Kopfhörer in meine Ohren, es wird leise und ich höre ihn doch weiter reden. Er nickt mir zu, ich habe wohl etwas richtig gemacht. Er langt nach meinem Arm, drückt das Display, gibt das Kommando nochmal. Eine Stimme in meinen Ohren sagt: 3 Minuten. Ich wiederhole das Gehörte: „Drei Minuten.“

„Gut.“, sagt der Nachbar. „Es ist nicht viel Bewegung in der Luft. Die Kapsel wird pünktlich kommen und in fünf Minuten sind Sie am Kahlenberg. Kostet Sie nur 3 Energiepunkte und ein paar Bugs für den Transport. Wenn Sie zurückwollen, wissen Sie ja, wie das geht.“

Ich weiß es nicht, ahne es aber.

„Auf dem Rückweg kann es sein, dass Sie länger warten müssen, wegen des Anflugs der Kapsel. Aber das Navigationssystem errechnet den schnellsten Weg, plant Sie ein in den Flugverkehr und bringt Sie wieder sicher hierher.“ Ich nicke. Das System ist wohl fabelhaft.

„Sie sollten jetzt runtergehen, die Kapsel kommt gleich.“

Ich danke ihm und gehe hinunter, hinaus, stehe vor dem Haus, unendlich viele Kapseln fliegen in Kopfhöhe und höher von links nach rechts und rechts nach links, keine streift die andere, alles ist getaktet, geplant, in Echtzeit organisiert, unfallfrei. Meine Kapsel kommt, schwebt vor mir herab, begrüßt mich mit meinem Namen, grüßt nochmals, grüßt immer wieder, bis ich endlich: „Ja, ich bin Robert1968.“ sage. Ob die Kapsel die Ungeduld auch verspürt, die sie ausstrahlt? Sie öffnet sich nun, da ich als Fluggast bestätigt bin, klappt einladend auf, ich trete einen Schritt hinein, fast barrierefrei ist sie. Dann umschließt mich die Kapsel, es riecht besser als in der Kapsel von gestern, dezent nach Lavendel. Hygiene sei Über neuerdings wichtig, hat der Nachbar gesagt, das sei ja eine Wunde des geteilten Individualverkehrs gewesen. Die Propeller werden lauter, aber es ist erträglich. Wir heben ab und schweben auf dem schnellsten Weg zum Kahlenberg, wo man schon weiß, dass ich kommen werde. Was ich dort trinken wolle, fragt mich das Ding am Handgelenk über die Kopfhörer und ob ich denn zum Essen bliebe.

Ich sehe auf die Straße hinunter, die habe ich schon lange nicht mehr angesehen. Keine Autos, kaum Menschen. Viel Grün, denn den Beton braucht man nicht mehr. Warum fliege ich zum Kahlenberg, frage ich mich. Ich könnte auch dort hin spazieren.

„Möchten Sie Musik hören oder etwas über Über erfahren?“, werde ich gefragt. Ich antworte nicht. „Über bringt Sie dank eines landesweiten Netzwerks, ausgeklügelten Koordinationssystemen und milimetergenauer Standorterfassung sicher, schnell und zuverlässig an Ihr Ziel, hundertprozent kollissionsfrei.“ „Spiele John Williams.“ sage ich. Der Flugweg reicht gerade noch, um die Ouvertüre von „E.T.“ zu hören.

Beim Aussteigen dankt die Kapsel in meine Ohren hinein. Ich hätte soundsoviel Treibstoff und soundsoviel Strom gespart, weil ich nicht die vielen verwinkelten Strassen mit einem Auto zurückgelegt habe. Ich sei ein guter Bürger und gerne wieder willkommen. Dort, wo ich lande und aussteige, steht geduldig eine schlanke Säule und hält mir einen leeren Becher entgegen. Ich habe vergessen, warum.

Es ist schön am Kahlenberg, es sind nur wenige Kapseln gelandet und kaum Menschen hier. Die vielen Kapseln über der Stadt sind so klein, dass sie den Blick auf die Stadt nicht stören. Jene Kapseln, die in der Stadt landen, wirken wie Regentropfen, jene die Aufsteigen, wie kleine Perlen in einer Cola Superzero. Ach, mein Getränk. Die Säule hat es davongetragen.

Ich bleibe lange, sehe der Sonne bei ihrer Wanderung in andere Weltregionen zu, bis mir der Gedanke kommt, „Über: nach Hause“ zu rufen.

Ja, es dauert, bis sich aus dem Schwarm der Kapseln über der Stadt eine löst, näher kommt, über mir schwebt, mich ins Visier nimmt, ein Laserstrahl mich sanft und leise ertastet und die Kapsel sich neben mich gesellt. Wir machen einander bekannt und schweben davon.

Ich werde nicht belehrt und es spielt keine Musik, denn ich summe, was mir wichtig war. Karlsson. Karlsson. Achtung, hier kommt Karlsson. Ein guter, ein lieber, blitzgescheiter Karlsson.

Meine Kapsel wummert unterwegs. Sie schießt auf eine illegale Kapsel, die an meiner Kapsel überschnell und autonom vorbeigeflogen ist. Das ist die Gefahr, von der mein Nachbar sprach, als ich ihn fragte, ob es denn gefährlich sei, mit Über zu reisen. Nein nein, hatte er gesagt. „Alle Kapseln helfen mit, illegale und gefährliche Schnellreiser aus dem Flugverkehr zu ziehen. Das Eine ist, dass von benachbarten Kapseln kleine klebrige Netze abgefeuert werden, von jenen Kapseln also, die dem Bösewicht am nächsten sind.“ Das erledigte gerade meine. Die Netze verheddern sich rund um die Propeller, verlangsamen sie, lassen die illegale Kapsel nicht abstürzen, sondern herabschweben, habe ich gelernt. Die Netze sickern über die Kapsel weiter und ein Aussteigen ist für den Verkehrssünder nicht mehr möglich.

Reisen ist jetzt sicher. Es gibt keine Verkehrstoten mehr, auch nicht durch Schüsse der Polizei. Das wurde abgedreht nach 2023. Das Andere ist nämlich, dass Verkehrssünder in ihrer Kapsel bleiben, bis der Sauerstoff so gering wird, dass sie sich nicht mehr rühren können, dann werden sie von der Überpolizei aus ihrer natürlichen Ohnmacht evakuiert, verhaftet und von der Unterpolizei verurteilt, meist zu einem Verlust ihrer Energiepunkte bis zum Existenzminimum, also gerade einmal den ORF schauen, zweimal pro Woche, aber kaum Saft für ein gutes Spiel. Es ist ein gutes System, sagte der Nachbar und ich nahm das so hin.

Ich sehe noch, wie das Eine passiert, aber meine Kapsel bewegt sich schnell weiter, hinein in einen dichter werdenden Schwarm von Kapseln, gefüllt mit mir unbekannten Menschen, die ich kurz sehen kann und nie mehr sehen werde. Ich vermisse die wiederkehrenden Begegnungen in der Strassenbahn. Das ist lange her. Da arbeitete ich noch.

Für Lamentieren bleibt keine Zeit. Schon ist das Zuhause erreicht. Wieder dankt mir die Kapsel für meine vorbildliche Verkehrswahl. Mit dem Auto, wird mir vorgerechnet, hätte ich an diesem Tag 92 Energiepunkte und 98 Lebensminuten verbraucht, mit Über hingegen nur lächerliche sechs Energiepunkt und knapp 10 Minuten Lebenszeit. Außerdem habe meine Überkapsel während des Fluges geholfen, ein negatives Element aus dem Verkehr zu ziehen, wie mir erklärt wird. Und deshalb erhalte ich 20% der eingezogenen Energiepunkte als Bonus. „Über freut sich, Sie bald wieder für einen Überflug begrüßen zu dürfen.“, beendet die freundliche Stimme in meinen Ohren den Dialog mit mir. Ich gehe hinauf und auf die offene Türe meines Nachbarn zu, sehe ihn sitzen und den Kopf bewegen, so als würde er im Himmel etwas suchen. Man könnte ihn ausrauben, denke ich, aber jeder Räuber wird schnell gefasst – die Polizei ist jetzt überall. Es ist sinnlos, dass ich ihm zuwinke, tue es aus Gewohnheit. Er sieht mich nicht. Das Ding auf seinem Kopf verhindert das. Er ist damit wohl gerade dort, wo soeben die Sonne erscheint, die ich vor 10 Minuten wegwandern sah.