(Geburtstags-Sience-Fiction)
„Mein Gerät geht nicht mehr!“ Rena87 kam in das Zimmer der anderen. Alle saßen sie in dicke Jacken, Wolldecken gehüllt und betrachteten ihre Geräte. „Meines auch nicht mehr.“, sagte einer. „Es muss jetzt 36 Stunden her sein. Ich kam schon vor einer halben Nacht nicht mehr auf meine Daten. Und jetzt ist das Gerät aus.“
„Hat jemand einen Solarakku?“
Ein wenig sahen sich alle um, dann an, dann schüttelten sie den Kopf, wie Schafe auf einer Weide.
Es war in der ganzen Stadt so, im ganzen Land, im Staatenbund, dem Kontinent und bestimmt auch in Übersee, aber das wusste niemand so genau. Genau genommen wussten sie gar nichts. Nicht, wie das Wetter wird, nicht, wo sie sich befanden, nicht, wie es ihren Angehörigen ging, nicht, wo sie hinsollten, nicht, wie sie das Essen wärmen könnten und noch nicht, weil niemand so weit vorausschaute, dass sie gar kein Essen mehr herstellen konnten. Sie wussten plötzlich nichts mehr. Mit einem Schlag war alles weg gewesen. Rena87 wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie knickte ein, sank auf die Knie, hielt dabei ihr totes Gerät entsetzt in der Hand. Die Ohrhörer ließ sie in den Ohren. So nutzlos.
Nachdem sie sich gefangen hatten, was eine Ewigkeit dauerte, fast sechs Stunden, verließen sie gemeinsam den Ort, gingen hinaus, sahen andere Menschen und sprachen mit ihnen. Einige hatten Waffen bei sich, solche nämlich, wie es sie früher gab. Die neuen Waffen hatten den SXE-Übertragungsstandard, aber auch SXE funktionierte nicht mehr. Keine Waffe konnte benutzt werden, wenn es keine SXE-Verbindung zum Server gab, der in Windeseile prüfte, ob das Ziel erschossen werden durfte und erst dann die Kugel freigab und präzise in den auserwählten Körper eindringen ließ, gleichzeitig die Angehörigen verständigte, der Polizei ein Video schickte, die Bank das Konto schließen ließ und binnen 4 Sekunden das Testament abwickelte. SXE war super und den alten Standards wie LTE, 5G, 7G, 9G und XG weit überlegen. Es gab ein junges Mädchen, Ella81, der gefiel der Gedanke, dass niemand mehr wusste, wie man Waffen herstellen konnte und alle Schusswaffen nun durch den weltweiten SXE-Ausfall außer Betrieb waren. Das war aber auch das Einzige, was sie an der neuen Lage gut fand.
Rena87 hingegen dachte an ihr totes Gerät und dass sie so froh gewesen war, endlich eines mit SXE zu haben, dem schnellsten Übertragungsstandard überhaupt. Sie musste dank SXE nichts mehr bei sich haben, hatte keine vollgestopfte Wohnung gebraucht, alles war am Server und blitzschnell verfügbar. Nur eben jetzt nicht. Und morgen nicht. Und überhaupt nie wieder, so sagte es ihr ihre Gewissheit.
Manche, denen sie begegneten, meinten, es hätte einen großen Schlag gegeben. DEN großen Schlag, der Schlag innerhalb Chinas, wo Xuan zuhause war. Welche Seite gewonnen haben könnte und ob es überhaupt Gewinner gab, wusste niemand. Kein Ton, kein Wort kam aus den toten Geräten, so half auch SXE nichts mehr.
Nun zogen sie wissenlos dahin, die Gruppe von Schülern des Eliteschulprojektes Xuan. Man muss wissen, dass alle nach Xuan strebten. Xuan war das große Ziel. Zuerst an deren Schulen, die keine Bücher austeilten, sondern einen Chip implementierten, einen solchen, über den man vor einer Ewigkeit von 20 Jahren noch sehr lachte und das nie für möglich hielt. Dann wollten sie in das Land, in dem Xuan seinen Sitz hatte, dann in deren Firmen. Xuan bot so viel, das war ihre Überzeugung, dass sie ausschließlich danach strebten. Xuan war ihr Gott und zusammen mit Gerät und SXE die neue Dreifaltigkeit. Xuan war modern, sprach zu ihnen über Videos und Töne – und nur damit. Keine Bücher, keine Tests, keine Mitschriften, keine Klausurarbeiten, wie man das früher nannte und keine Matura gab es. Alles abgeschafft. Xuan war ein Lernprojekt, das direkt in den Kopf eingriff, direkt das Gehirn speiste, erschlossen durch einen sicheren Chip mit unglaublicher 6-Megabyte-Verschlüsselung. Xuan war seit 10 Jahren auf dem Markt, zuerst klein, dann riesengroß. Xuan war die Hoffnung und Googles Niedergang, Xuan war 2039 unangefochtene Nummer Eins.
Xuan war natürlich geschäftstüchtig. Sie verkauften kein Wissen, sie verliehen das Wissen nur. Wurde die Gebühr nicht bezahlt, wurde der Zugang zu dem Wissen wieder gesperrt, bis auf die kostenlosen Basics. Den Chip durfte man jedenfalls behalten. Das sei alles ein Vorteil, sagte Xuan´s Marketing den Kritischen, denn wer Wissen nicht braucht, braucht dafür nicht zu zahlen. Sei man arm und hätte kein Geld, bräuchte man auch Wissen nicht, das käme dann also billiger und den Armen sohin entgegen.
Wer Wissen hingegen braucht, hat es stets verfügbar. Es sei aktuell und nicht veraltet. Die kostenlosen Xuan-Basics enthielten keinen Ballast, also kein Rechnen. Wozu auch, es war das Erste, das verloren gegangen war, schon weit vor Xuan, weit früher noch, im letzten Jahrtausend. Lesen war auch nicht dabei, niemand brauchte noch Lesen, denn Xuan visualisierte im Kopf. Aber gesprochene Sprache war im Basicpaket dabei, damit sie alles verstehen konnten. Damit sie die Lizenzbedingungen hören konnten, wissen konnten, was eine Steckdose ist und wie man Hi! sagt, Alexa herbeibeschwört oder das völlig veraltete Siri-Kommando ruft. Doch diese Worte wurden nutzlos, denn niemand antwortete, weil Xuan und seine gigantischen Server plötzlich stumm geworden waren.
Ella81 wollte Papier. Nirgends war noch Papier. Und einen Stift, um etwas aufzuschreiben, etwas ganz ganz Wichtiges, solange sie sich noch daran erinnern konnte. Sie hatte Erinnerung und fürchtete, dass ihr Chip bald erkennen würde, dass sie offline war und ihr den Zugang zu ihrem Wissen sperren könnte. Aber sie fand nichts und als sie an Rena87 vorbeikam und die nur entschuldigend mit der Schulter zuckte, weil sie auch kein Papier hatte, rief sie: „Aber wir müssen es doch aufschreiben, ehe wir es vergessen haben!“
„Was vergessen haben?“, dachte Rena87. Und die Frage ließ sie nicht los. Sie lief so lange hinter Ella81 her, bis sie sie Stunden später in einer Ecke kauernd aufgespürt hatte.
„Was müssen wir aufschreiben? Kannst Du das überhaupt?“
Ella81 kam sich lächerlich vor, als sie gestand: „Ich kann noch schreiben. Aber wie lange noch? Wenn ich es vergesse, wer wird sich dann erinnern? Wen interessierte in den letzten Jahren noch Buchstaben?“
Rena87 wollte wissen, woran man sich erinnern sollte.
„An die Worte!“, rief Ella81. „Wie man sie schreibt! Was Buchstaben sind.“ Ella81 sah Rena87 an, als müsste die doch verstehen. Verstehen, dass es ums nackte Überleben ging. Aber Renas Blick verriet: sie hatte keine Idee von Lesen.
„Hör, wir hören nur noch alles, lassen uns alles vortragen, aber nun bleibt alles stumm. Und keiner…“, sie sah sich um, „keiner kann noch lesen. Meine Worte kannst Du hören, aber kannst Du sie auch schreiben?“
Rena87 war robuster als Ella81. „Dann machen wir eben neue. Also neue …. wie nennst Du das…? Buchstaben. Was für ein seltsames Wort. Buch. Staben.“ Sie rang nach einem neuen Begriff. „Zeichen. Wir werden neue Zeichen machen.“
Ella81 ließ aber nicht los, weil sie das Entsetzen nicht loslassen wollte. „Aber alles ist jetzt in diesen Buchstaben niedergeschrieben. Alle müssen die kennen, sie lernen, sie verstehen. Sofort. Wir haben überhaupt keine Zeit.“ Das Wort überhaupt war Rena87 auch nicht verständlich, trotz Ellas starker Betonung.
Das war vor 2 Jahren. Damals hatte niemand Zeit, sich Zeit zu nehmen, das Verlorene aufzuheben und zu erlernen. Ella81 stürzte sich von einem Gebäude, nachdem sie dort 81 Etagen zu Fuß hinaufgegangen war, denn der Lift ging nicht mehr. Es ging überhaupt gar nichts mehr. Und es geht immer noch nichts. Die Menschen sterben wie die Fliegen und wissen nicht woran und warum, weil niemand es ihnen sagen kann. Manche neue Götter, die herumspazieren, sagen, dass das alles zum großen Plan gehört, aber lesen kann den Plan niemand, selbst wenn er wo stünde. Nur eines geht die Runde, nämlich das, wovon Ella81 in ihren wirren letzten Wochen so oft sprach: Von der Rettung in Europa, von der großen Bibliothek.
Rena87 und ihre Freunde trauerten um Ella81. Obwohl sie verrückt schien, war sie ihnen ans Herz gewachsen. Sie konnte Geschichten erzählen und die Abende, Nächte, Morgen, Mittage, Wochen, Monate unterhaltsam machen, denn Unterhaltung gab es sonst keine mehr. Keine Musik, keine Filme, keine Serien. Alle Geräte waren ja tot. Sie erzählte eben auch von der grossen Bibliothek, die es in einem Bunker am Kontinent geben sollte. Und von den wenigen Menschen, die lesen konnten. Von der Frau in Wien zum Beispiel, die Bücher schuf und lesen konnte. Sie sei fast Hundert und eine der Letzten ihrer Art.
Während sie erzählte, ließen die neuen Menschen rund um sie ihre toten Steine nicht los. Sie probierten immer wieder, ob sie sich einschalten ließen. Manche jonglierten damit, um sich zu beschäftigen, weil sie sonst nichts zu tun hatten. Andere gingen kurz mal weg, kehrten nicht zurück, weil sie die Situation ihres Daseins nicht mehr ertragen konnten, denn es gab kein Papier, keine Spülung und alles war nur noch schmutzig. Andere vergifteten sich, weil sie das, was sie an Fundstücken aufaßen oder tranken, nicht als das identifizieren konnten, was es war: Motorenöl, Medikamente, Pflanzenschutzmittel und andere Gifte. Sie waren es gewohnt gewesen, ihre Geräte auf Gegenstände zu halten und Xuan sagte ihnen, was damit zu tun sei und was nicht. Xuan schwieg jetzt. China war erloschen, wie gemunkelt wurde. Strom gab es dort auch nicht mehr.
Rena87 hatte inzwischen einen Mann gefunden, der neben ihr lag und sie wärmte. Das mochte sie. Sie mochte auch den Mann ansich, er war ruhig, besonnen und stark. Er hieß Dirk_Baggi79 und die gängige Nummer hinter seinem Namen ließ sie bald weg. Sie sagte ihm, was sie dachte. Ella81 habe von dieser Frau erzählt, die nie Xuan zu nahe getreten war. Eine Autonome. Sie soll in Wien leben und selbst denken können. Und sie solle lesen können! Sie wäre eine Chance, eine Möglichkeit, von ihr das Lesen zu erlernen und all das wieder zu erschließen, was vor ihnen lag, wie Steine: die Romane, die Plakate, die Bauanleitungen, die Lexikas, Lehrbücher, Medizinbücher. All das, was vor Jahren an Bedeutung verlor, seit 2 Jahren tatsächlich verloren ist und dessen Verlust den Planeten zur Hölle werden ließ.
Renas Mann nickte und am nächsten Tag packte er Sachen und sagte, dass er wisse, wo Norden sei und Süden und Westen und Osten und dass, wenn sie einfach darauf losmarschieren würden, sie irgendwann nach Wien kommen und diese Frau finden könnten, die lesen kann.
***
Gerdas Fernseher ging nun schon 4 Jahre nicht, selbst Robert konnte ihn nicht mehr zum Leben erwecken. Die meisten ihrer Bücher hatte sie in den kalten Wintern der vergangenen Jahre verbrannt. Aber einige behielt sie, das Buch über die Schiffe, weil vielleicht jemand einmal wieder Schiffe wird bauen wollen, ein visuelles Lexikon mit Explosionszeichnungen und vielen nützlichen Details, ein Märchenbuch und noch eines, das ihr ganz wichtig war.
Das Essen ging manchmal zur Neige. Sie hatte zwar in der 5. Coronapandemie vor vielen Jahren einen Vorrat angelegt, aber nun war auch der dahin. Sie hatte sich einige Jahre mit den Büchern über Wasser gehalten. Von manch einem Buch mit schönen Bildern verlorener Länder und Städte bekamen die Menschen nicht genug. Sie bekam für einen Bildband über Sizilien einen Lebensmittelvorrat für über drei Wochen! Auf die Idee, Bücher nur zu verleihen, statt zu verkaufen, kam sie nicht. Xuans Methoden lagen ihr nicht. Manche anderen Bücher gingen hingegen gar nicht gut weg, waren schlecht und nichts wert. Die nahm sie zum Heizen in den ersten Wintern. Dann wurde klar, dass es keine Feuerzeuge mehr gibt und niemand weiß, wie man die herstellt und woher das Gas kommen sollte. Dann wurden die Restbestände Streichhölzer unbrauchbar, man hätte sie zuerst verwenden sollen und danach die Plastikfeuerzeuge, aber es hatte ihnen niemand gesagt. Wie man Streichhölzer herstellen könnte, wusste selbst Gerda nicht. Es hatte sie nie gekümmert und wenn sie so darüber nachdachte, weshalb es sie nicht gekümmert hatte, fühlte sie ganz tief in sich etwas, von dem sie annahm, dass das jetzt alle fühlten. Die quälende Frage, wieso man sich auf andere verlassen hatte. „Es muss wohl etwas mit Schwefel sein“, hatte sie einmal gedacht und das Kinderbuch mit der Geschichte vom Mädchen mit den Schwefelhölzchen zur Seite gelegt. Ein Anhaltspunkt, nicht mehr. Es war kein Streichholz mehr da, um das nutzlose Buch anzuzünden.
Gerda saß unlängst am Fenster und blickte über die Stadt. Rundherum waren die Häuser eingebrochen, ihres stand aber noch. Es gab niemand, der noch irgendetwas reparieren konnte, weil es kein Material gab, kein Wissen, weiterhin das nicht, was durch die Kabel laufen sollte und von dem Kinder, die heute 5 Jahre alt waren, keinerlei Vorstellung mehr hatten: Strom.
Dass da jemand an ihrer Türe klopfte, statt an der toten Gegensprechanlage zu läuten, wunderte sie nicht, es wird wohl wieder jemand ein Buch haben wollen, dachte sie gleich. Sie ging an ihren Bücherregalen vorbei, trat ins Vorzimmer und blieb stehen. Es klopfte wieder. Gerda sah hinüber in die Bibliothek, zu den Regalen, die fast leer waren. Nur noch die vier Bücher standen dort. Ja, sie würde sie ihnen geben, dachte sie. Dann ging sie in ihre Küche, klopfte dreimal mit dem Gehstock auf den Boden, öffnete das Küchenfenster und sah hinunter. Ihre Schwester Brigitte, die unterhalb lebte, sah bald aus ihrem Fenster herauf. „Liebste Gitta, hat es bei Dir auch geklopft?“
„Nein.“, antwortete die Schwester.
„Dann wollen die wohl wirklich zu mir, die da gerade an der Türe hämmern.“ Und so ging sie die Türe öffnen.
Das Paar war bezaubernd und hatte Konserven mit. Sie hatten viel zu erzählen und konnten das auch, denn sie hatten in ihrem Offline-Gehirn noch einen veralteten Bestand an deutschen Sprachkenntnissen. Und dann baten sie um Bücher, die sie bestaunten, weil sie noch funktionierten: das visuelle Lexikon, das Buch über den Schiffbau und das Märchenbuch. Rena87 und Dirk_Baggi79 blieben zwei Monate, lernten Lesen, trainierten ihre Gehirne. Gerda war geduldig und froh, dass sie ihr Wissen weitergeben konnte, damit es wieder weitergegeben wird. Einmal sagte sie den beiden: „Wissen Sie, ich kenne da wen, der hat mit den Büchern, die ich bei Donauland aufgelegt habe, das Lesen gelernt. Aber schade auch, denn einen Fernseher reparieren, das kann er trotzdem nicht.“
Als der Tag des Abschieds gekommen war, weil sie nun aufbrechen wollten, um die große Bibliothek zu finden und die Welt zu retten, waren ihre Köpfe mit Buchstaben beladen und sie ließen ihr Versprechen zurück, die Buchstaben an alle zu verschenken, die der Falle der Technik entkommen wollten. Das neue Steinzeitalter sollte rasch überwunden werden.
Gerda nahm, kaum dass die beiden gegangen waren, ein feines Tuch und wischte die Regale aus. Das Streicheln der Flächen war ihr ein großes Vergnügen. Auf ihrer Decke im Schlafzimmer lag das letzte und wichtigste aller Bücher, das sie niemals hergeben würde.
Welches Buch mag das wohl sein?